Emotionaler Lebenslauf

The boring one

/ 1980

Im Mathematik-Unterricht steht „Mengenlehre“ auf der Tagesordnung. Die Lehrerin versucht das Thema zu veranschaulichen, indem sie die Kinder der Klasse nach Haarfarbe sortiert. Zusammen mit Carina Preskop werde ich in die Kategorie „rote Haare“ eingeteilt. Da ich zweifelsfrei wunderschöne weißblonde Haare habe (mit nur einem ganz leichten Rotstich) bin ich wütend, fühle mich missverstanden, nicht gesehen, gedemütigt. Außerdem ist Carina, bei allem Respekt, eine nervtötende kleine Zicke, mit der ich an keinem Ort der Welt alleine sein möchte, nicht einmal in einer Kategorie. Ich werde von diesen Gefühlen derart übermannt, dass ich weinend aus dem Klassenzimmer renne. Mein Ruf in der Klasse ist damit für immer ruiniert.

/ 1983

Ich habe mir in letzter Zeit angewöhnt, an Samstagabenden bei meiner Oma zu übernachten, selbst wenn meine Eltern gar nicht ausgehen. Meine Oma erlaubt mir nämlich, so lange fernzusehen wie ich möchte. Als ich eines Sonnabends an ihrer Wohnungstür klingele, öffnet sie mir erfreut und fragt mich lachend, ob es wieder einen Western im Spätprogramm gäbe. Ich sage schnell „Weiß nicht!“ und drücke mich an ihr vorbei in die Wohnung, damit sie die Schamesröte in meinem Gesicht nicht sieht. Sie glaubt mir, obwohl sie weiß, dass ich lüge. Ich bin erst 11 und verstehe noch rein gar nichts vom Leben, aber mir wird klar, dass dies kein Widerspruch ist, sondern Liebe. Ich besuche sie in Zukunft noch häufiger – und niemals mehr wegen eines John Wayne-Films.

/ 1984

Ich werde an meiner Schule erpresst. Ein sehr großer und kräftiger Junge droht mir, mich zu verprügeln, wenn ich ihm nicht jeden Tag eine Mark gebe. Sechs Wochen lang bringe ich ihm jeden Morgen eine Mark – von dem Geld, das ich für ein neues Fahrrad gespart hatte. Dann beschließe ich, dass das so nicht weitergehen kann, mehr aus Vernunft und auf der Basis buchhalterischer Kalkulationen denn aus Heldentum. Ich sage dem Jungen, dass ich ihm kein Geld mehr bringen würde und es passiert: gar nichts.

Das Traurige ist, dass ich glaube, bloß Glück gehabt zu haben. Ich fühle keinen Stolz, sondern erlebe mich als schwach und minderwertig, weil ich erst nach sechs Wochen geschafft habe, was für andere ein Kinderspiel gewesen wäre. Mit meinen zwölfeinhalb Jahren verstehe ich noch nicht, dass ich etwas Großes vollbracht habe, etwas persönlich Großes, nämlich dass ich getan habe, wovor ich Angst hatte. Weil ich das noch nicht verstehe, muss ich die Lektion noch einmal lernen:

Mit 16 Jahren habe ich ein schrecklich schmerzhaftes Erlebnis bei einem Pfuscher von Zahnarzt und gehe daraufhin acht Jahre lang nicht mehr zum Zahnarzt. Erst als ich vor lauter Zahnschmerzen nicht mehr studieren kann, mache ich einen Termin. Als ich ins Behandlungszimmer geführt werde, setze ich mich nicht auf den Stuhl, sondern erwarte den Zahnarzt an der Tür. Er fragt freundlich: „Oh, hat man Ihnen keinen Platz angeboten?“ Ich sage: „Doch, doch, aber da kann ich mich heute noch nicht hinsetzen. Wir müssen erst reden!“ „Gut“, sagt der Zahnarzt, „reden wir!“; vermutlich kennt er so Schätzchen wie mich zu Genüge. Ich erzähle ihm von meiner Angst, bin erleichtert und muss irgendwann über die ganze Situation lachen: der angehende Psychotherapeut, der beim Zahnarzt erst mal „nur reden“ will. Nach einer Weile sagt der Zahnarzt: „Wollen wir denn mal einen Blick riskieren? Nur gucken, natürlich!“ Ich lasse es zu und frage am Ende: „Ist es sehr schlimm?“ Er lächelt mich wieder an und sagt: „Nun ja, ‚sehr schlimm’ ist es nicht, jedenfalls nichts, was wir nicht wieder hinkriegten. Aber ein halber Kleinwagen dürfte für mich schon dabei herausspringen!“ Er ist mir bis heute ein Vorbild dafür, Humor und Ernsthaftigkeit zu verbinden.

/ 1985

Boris Becker steht im Finale von Wimbledon, gegen Kevin Curren, das Aufschlagmonster. Ich bin so unglaublich aufgeregt wie noch nie zuvor in meinem Leben. Jeder Ballwechsel ist eine Nervenschlacht – vielleicht nicht für Boris, aber für mich. Schließlich bin ich noch jung genug, um einen Menschen wegen seines knallharten Aufschlags bedingungslos zu verehren. Gleichzeitig bin ich alt genug zu ermessen, was es für einen Jungen, kaum 4 Jahre älter und vermutlich noch männlich-leistungsorientierter aufgewachsen als ich selbst, bedeuten muss, als jüngster Spieler aller Zeiten das größte Tennisturnier der Welt zu gewinnen.

/ 1986

Ich gucke das Fußball-WM-Finale Deutschland gegen Argentinien zusammen mit meinem Vater. In der 85. Minute erzielt Rudi Völler den 2:2-Ausgleich. Mein Vater und ich springen beide auf und umarmen uns.

/ 1991

Ich bekomme von der Sozialarbeiterin meiner Zivildienststelle den größten (und besten) Einlauf meines Lebens, der im Kern beinhaltet, dass ich es im sozialen Bereich nicht weit bringen werde, wenn ich weiterhin meine Ernsthaftigkeit mit Hilfe meines Humors zu verstecken versuchte. Sie hat recht – und ich weiß es sofort. Ich empfinde Demut. Und Freude darüber, so wahrhaftig gesehen worden zu sein. Seitdem versuche ich, meine Ernsthaftigkeit und meinen Humor zu verbinden. Es gelingt nicht immer.

/ 1992

Nachträglich betrachtet würde ich sagen: 1992, mit 19 Jahren, bin ich vielleicht auf dem Höhepunkt meines Lebens – was Verzweiflung, Selbsthass und das Spüren der Einsamkeit betrifft. Mein Zivildienst allerdings ist, auf eine sehr herausfordernde Weise, wirklich toll. So auch dieses Seminar zur politischen Bildung irgendwo in der schleswig-holsteinischen Diaspora, bei dem wir am zweiten Tag so eine „Pro-Contra-Diskussions-Übung“ machen, bei der man einen der beiden Diskussions-Plätze in der Mitte einnehmen kann, wenn einem gute Argumente einfallen. Heutiges Thema: „Soziale Gerechtigkeit“. Oder „Rassismus“, ich weiß nicht mehr genau … Ich halte mich wie immer bei so etwas zurück, aber irgendwann werde ich ungeduldig, weil das aus meiner Sicht Offenkundige nicht genannt wird – oder eher: weil Dinge diskutiert werden, die nicht diskutabel sind. Also gehe ich in die Mitte und monologisiere mich in Rage … Irgendwann (sehr spät!) merke ich das und komme zum Schluss. Mein Gegenüber schweigt. Irgendwann fängt jemand an zu klatschen. Alle klatschen. Ich bin zutiefst konsterniert: Noch nie hat jemand etwas beklatscht, was ICH selber DENKE. Das Gefühl lässt sich vielleicht beschreiben als eine Art „Ankommen in der Menschheit“ (zumindest für eine Weile). Als könnte das Existieren und, darauf aufbauend, Begegnungen mit anderen Menschen tatsächlich SINN machen. Am selben Tag beschließe ich, Buchautor und Vortragsredner zu werden (stimmt natürlich nicht, aber der biographische Zusammenhang ist schon küchenpsychologisch offenkundig, oder?), und lerne meine erste feste Partnerin kennen (stimmt wirklich!).

/ 1994

Die erste große Liebe: Ein neues Leben beginnt.

/ 1998

Im Wonnemonat Mai trennt sich meine Freundin von mir. Ende Juni muss ich meine Diplomarbeit abgeben und schaffe es daher nicht, mich auch noch um so etwas wie eine Arbeitsstelle zu kümmern. Ein Leben in Einsamkeit und Armut liegt vor mir. Wenige Tage später kontaktiert mich eine Jugendhilfeeinrichtung, die einen Psychologen für ihre männlichen Jugendlichen sucht – ein Kollege aus meiner ehemaligen Praktikumsstelle hatte mich empfohlen. Ich gehe zum ersten Vorstellungsgespräch meines Lebens und bekomme die Stelle. Meine Diplomarbeit gebe ich zwei Wochen vor der Frist ab. Acht Tage, bevor ich das Diplomzeugnis erhalte, gebe ich meine erste Beratungsstunde. Sie läuft gut.

/ 2002

Die zweite (und letzte) große Liebe: Ein neues Leben beginnt.

/ 2007

Als Männerberater bin ich sehr dafür, Sachen kurz und klar zu benennen, auf den Punkt zu bringen, spürbar werden zu lassen. Seit der Geburt meines Sohnes aber weiß ich, dass es Dinge im Leben gibt, die man definitiv nicht in zwei oder drei Sätzen beschreiben kann; man muss entweder ganz viel darüber sprechen oder aber schweigen. Daher sage ich an dieser Stelle gar nichts und spreche ganz viel in meinem Buch „Die Ritter des Möhrenbreis – Geschichten von Vater und Sohn“

/ 2008

Mein Buch „Männerseelen“ ist erfreulicherweise erfolgreich genug, um mir eine Einladung in die „Johannes B. Kerner-Show“ einzubringen. Ich soll dort zusammen mit Mario Barth über Männer reden, er soll lustig sein, ich ernst. Die Johannes B. Kerner-Show gucken fast zwei Millionen Menschen – konsequenterweise bin ich schon Monate vor dem Auftritt wie paralysiert. Noch nie in meinem Leben habe ich eine derartige Angst gehabt. Am Tag X bin ich so durch den Wind, dass ich vergesse, mein Hemd einzupacken, sodass ich eine Stunde vor Aufnahme der Sendung durch die teuerste Einkaufsstraße Hamburgs hetzen muss, um ein Hemd zu finden, das zu meinem Sakko passt. In der Show witzelt Kerner eine knappe Stunde lang mit Mario Barth herum, während ich doof daneben sitze und höflich lächele. Als ich an die Reihe kommen soll, ist die Zeit zu knapp für ein weitergehendes Gespräch, mein Buch wird nicht einmal erwähnt. Ich bin empört und gleichzeitig stolz, dieses persönliche Martyrium angegangen und überstanden zu haben.

/ 2009

Das zweite Kind: Ein neues Leben beginnt. Ein fantastisches Leben. Ein stressiges Leben. Daher auch hier nur der kurze Verweis, wo mehr darüber geschrieben steht, nämlich in “Papa, Du hast ja Haare auf der Glatze! – Aus dem Alltag eines Vaters”.

/ 2011

Das dritte Kind: Ein neues Leben … naja, Sie wissen schon! Aber nein, im Ernst: Es ist noch fantastischer! Aber auch exponentiell stressiger! Jetzt aber wirklich! Deshalb entschuldige ich mich schon hier und heute bei meiner wundervollen jüngsten Tochter, dass es mangels Schreibgelegenheiten wohl niemals ein Buch geben wird, in dem sie auch vorkommt. Exakt 15 Minuten nachdem abends die Wäsche weggepackt, das Geschirr gespült, das Spielzeug weggeräumt und die Arbeits-Mails beantwortet sind, fallen mir nämlich schlagartig die Augen zu. Ich decke dann schnell die beste Frau der Welt zu, die bereits nach 11 Minuten eingeschlafen ist, und lege mich daneben. Manchmal putze ich sogar noch die Zähne …

/ 2013

3 Kinder sind toll, 3 Kinder sind wunderbar, 3 Kinder sind fantastisch, 3 Kinder sind … praktisch betrachtet mindestens eins zu viel. Zumindest, wenn man sich um jedes einzelne tatsächlich kümmern möchte … Allerdings würde es mir äußerst schwer fallen zu sagen, WELCHES meiner Kinder zu viel ist. Denn sobald ich einen einzigen Nachmittag ein einziges meiner Kinder nicht sehe, habe ich das schmerzliche Gefühl, ein Kind zu wenig zu haben! Sie sehen, es ist alles sehr verwirrend: Im Grunde ist das Leben mit drei Kindern eine alltägliche Achterbahnfahrt aus Liebe, Glück, Überforderung und schlechtem Gewissen. Zum Glück bin ich als Männerberater ja ein Meister der Gefühlsverarbeitung, der Stressbewältigung und der Selbstfürsorge: Daher dauert es knapp zwei Jahre, bis sich meine psychosomatischen Rückenbeschwerden in bislang ungeahnte Dimensionen hochgeschaukelt haben und fast drei Jahre bis zu meinem ersten Tinnitus … Glücklich-Sein kann manchmal auch weh tun.

/ 2014

Ende Januar muss ich – erstmals seit ich Kinder habe – für eine ganze Woche auf Veranstaltungsreise fahren. An einem sonnigen Sonntagmorgen fahre ich mit unserem klapprigen Zweitwagen aus der Einfahrt und winke meinen Kindern, die an der Eingangstür stehen und mir nachschauen: Mein Herz bricht unmittelbar. Erst kurz vor der Grenze zur Schweiz sehe ich wieder in Farbe.

7 Tage später komme ich nachts nach Hause und am nächsten Morgen kommen alle Kinder zu mir ins Bett gestürmt, reden parallel auf mich ein, raufen mit mir und wollen gefühlte 25 Bilderbücher mit mir angucken. Meine ältere Tochter, die für Süßholzraspelei nicht bekannt ist, umarmt mich und sagt: “Du bist der beste Papa der Welt!” Nach einer knappen Stunde werden wir zum Frühstück gerufen. Anschließend streite ich wie üblich mit allen Dreien wegen des Zähneputzens und des Anziehens, meine Tochter sagt: “Wenn ich jetzt Zähne putzen muss, bist Du nicht mehr mein bester Papa!” Ich beschließe, im kommenden Jahr wieder für mindestens eine Woche wegzufahren.

Es war nur eine Stunde – aber eine Stunde ist eine Stunde!

/ 2014

Im Sommerurlaub klagt mein Sohn plötzlich über extreme Gelenkschmerzen. Ich selber nehme es gar nicht richtig ernst, aber meine Frau fährt sofort mit ihm ins Krankenhaus. Nachdem ich meine Töchter ins Bett gebracht habe, setze ich mich vor den Fernseher – es ist der Tag des Halbfinals gegen Brasilien. Beim Stande von 0:0 kommen meine Frau und mein Sohn zurück. Als er endlich eingeschlafen ist, berichtet meine Frau von der Diagnose: eine sehr seltene und schwer beeinträchtigende Kinderkrankheit unklaren Verlaufs. Wir verbringen den Rest des Abends im Internet – was es natürlich nicht besser macht. Zwischendurch geht meine Frau einmal ins Wohnzimmer und sagt tonlos: “Es steht 7:0 für Deutschland.” Ich sage: “Aha.”

Als ein paar Tage später Mario Götze mich – und ein paar Millionen andere Fußball-Fanatiker – zum Weltmeister macht, denke ich unmittelbar daran, meinem Sohn, der ein großer Mario Götze-Fan ist und sich in dieser Nacht mehrfach wegen Magenkrämpfen übergibt, am nächsten Morgen das Tor im Internet zu zeigen.

Nach weiteren sechs Wochen, die mein Sohn vollständig im Bett verbringt (selbst auf die Toilette muss er getragen werden), geht es ihm ein klein wenig besser, sodass wir uns draußen in die Liegestühle setzen. Als aus dem Radio Andreas Bouranis “Auf uns” erklingt, deutet mein Sohn einen Mario Götze-Jubel an – und grinst. Dieser erste Anflug von Wohlergehen nach knapp zwei Monaten des Leidens beflügelt mich so sehr, dass ich zur Musik von “Auf uns” herumblödele: “Ein Hoch auf den, der neben mir liegt – er hat die Krankheit bald besiegt – ein Hoch auf uns – auf dieses Leben!” Mein Sohn strahlt übers ganze Gesicht und singt diesen Text am selben Tag noch mehrfach – wie auch an jedem der folgenden knapp fünfzig Tage, die er noch in Liege- oder Rollstuhl verbringen muss. Monate später hören wir das Lied zusammen in einer Kinderdisco, tanzen dazu und singen “unseren Text”. Ein paar Minuten später geht mein Sohn zur DJane und bringt es – gegen jede Regel des DJings – fertig, dass “Auf uns” gleich noch einmal gespielt wird. Ich habe das 7:1 gegen Brasilien ja nicht gesehen, aber mehr Gänsehaut kann es kaum gewesen sein.

Die Erkenntnis mag ernüchternd sein oder auch wieder nicht: Das Wichtigste, das ich bisher in meinem Leben vollbracht habe, war ein lustiger Reim im richtigen Augenblick.

/ 2018

Nach etlichen Jahren des Suchens finden wir endlich ein Haus in der Gegend, wo alle Kinder zur Schule gehen, meine Frau arbeitet, eigentlich unser ganzes Leben stattfindet. Tolle Lage, sogar bezahlbar! Es ist allerdings ein älteres Haus. „Älter“ nicht im Sinne von „urig“ oder „wunderschöne Holzbalken“, sondern eher im Sinne von (wie mein 11-jähriger Sohn es ausdrückt): „Mann, ist das schäbig hier!“ Komplett sanierungsbedürftig eben! Ein Haus komplett zu sanieren und umzubauen – vielmehr: umbauen zu lassen –, ist für einen Kontroll-Freak wie mich noch krasser als Vater werden: Meinen Kindern muss ich zwar stündlich 100.000 Ansagen machen – aber am Ende des Tages hören sie dann doch (noch!) auf mich. Einfach, weil ich ihnen mit Süßigkeiten-Entzug drohe. Handwerker, Architekten und Küchenplaner hingegen KÖNNEN gar nicht auf mich hören – weil ich nämlich keinen blassen Schimmer habe, was ich Ihnen für Ansagen machen könnte, sollte oder müsste. Wenn die Handwerker MIR Ansagen machen, nicke ich verständnisvoll (das habe ich als Berater ja gelernt …) und warte einen Aspekt ihrer Ausführungen ab, den ich halbwegs verstehe, um eine pointierte Nachfrage zu stellen, damit ich nicht als das entlarvt werde, was ich bin: ein technisch-handwerklicher Vollpfosten. Langer Rede, kurzer Sinn: Es ist grauenvoll! Niemals in meinem Leben habe ich mich so hilflos gefühlt.

Aber gut, es ist Juni, die Sonne scheint und der Architekt klopft mir auf die Schulter und sagt: „Weihnachten werden Sie in Ihrem wunderschönen neuen Haus feiern!“ ​

/ 2019

Wir haben Weihnachten NICHT in unserem neuen Haus gefeiert. Es gab nämlich weder eine Küche noch ein Badezimmer noch eine Heizung. Letztere wäre allerdings eh nutzlos gewesen, da die alten Fenster zwar längst ausgebaut, die neuen aber wegen „Lieferschwierigkeiten“ noch nicht eingesetzt waren. Passenderweise war auch das alte Dach kurz vor Weihnachten schon entfernt worden, von einem neuen Dach aber noch keine Spur. Möglicherweise wollten die Dachdecker einfach Santa Claus den Zugang erleichtern, vielleicht gab es aber auch bloß wieder „Lieferschwierigkeiten“. „Lieferschwierigkeiten“, mein persönliches Unwort des Jahres 2018, ist in der Handwerkersprache der Fachterminus für „Ich komm halt heut‘ nicht …!“ So ähnlich wie wir PsychologInnen einfach immer von „Depressionen“ sprechen, wenn wir noch keine rechte Ahnung haben, was genau mit jemandem los ist.

A propos „Depressionen“: Die letzten 12 Monate waren noch furchtbarer als es die grandiose Hilflosigkeit der Baubeginn-Phase befürchten ließ. Um es etwas traditionell-männlich-rationalisierend auszudrücken: Ich bin sehr verwundert, dass das Thema „energetische Sanierung eines Altbaus“ mit all seinen existenzialistischen Aspekten weder in der antiken noch in der zeitgenössischen Kunst und Literatur eine herausragende Rolle spielt. Denn zumindest in meinem Leben hat bislang einzig dieser Themenkomplex jenes nihilistische Grauen verkörpert, vor dem ich seit meinem kindlichen Kontakt mit dem „Nichts“ in Michael Endes „Unendlicher Geschichte“ immer Angst hatte. Wie vergleichsweise unbedeutend kommt mir heute all mein Schwelgen in den Hunderten von Romanen und Pop-Songs vor, in denen sich alles um Liebe – bzw. in „meinen“ Songs meist Liebeskummer – drehte, hatte dieser Kummer doch immer auch etwas Poetisch-Lebensbejahendes. Wie relativ albern all die Kunstwerke voller Zorn auf Eltern, Lehrer und Establishment, deren Rebellentum irgendwie auch kraftvoll-schön war (zumindest wenn man skandinavische DeathMetal-Bands „schön“ findet und als „Kunst“ zählt …). Hingegen ist die Frage, wie man eine DIN-genormte Duschkabine in ein Badezimmer mit komplett schrägen Wänden und der irgendwie falschen Fußbodenbeschaffenheit einbaut, einfach nur, Entschuldigung, Scheiße! Und, Entschuldigung, scheißteuer! Null poetisch. Null rebellisch. Und man kann noch nicht einmal irgendjemandem sein Leid klagen, weil man dann ein „Spießer mit Luxus-Problemen“ ist. Wenn man schlaflose Nächte hat, weil einen Liebeskummer oder Weltschmerz nicht ruhen lassen, dann ist das poetisch. Wenn man aber nachts nicht schlafen kann, weil man nicht weiß, welche Baukatastrophen der Maurer morgen wieder im Fundament finden wird oder welche mit dem Stilmittel der Übertreibung reich gesegnete Akonto-Rechnung vom Trockenbauer ins Haus flattern wird, dann ist das, Entschuldigung … naja, nicht poetisch!

/ 2020

Gegen Mittag rückt der Trupp der Garten-Landschaftsbauer ab, die heute fertig geworden sind. Am selben Nachmittag kommt der Teakholztisch für die Terrasse. Wunderschöner Tisch. Ich setze mich auf die Terrasse und beschließe, nein, irgendwie beschließt es in mir, dass jetzt, heute, in diesem Moment, trotz noch fehlender Außensteckdosen und einer nicht rundlaufenden Kondensathebepumpe, das Haus endlich, endlich fertig ist. Und damit die schlimmsten zwei Jahre meines Lebens vorbei. Und dass jetzt die besten Jahre kommen ….

/ 2021

Die Pandemie dauert jetzt 12 Monate an. Davon gefühlte 15 Monate im HomeOffice/HomeSchooling mit drei Kindern … Natürlich könnte jeder von uns Romane über dieses vergangene Jahr schreiben, aber da das hier ja ein emotionaler Lebenslauf ist: Was ist das vorherrschende Gefühl? Nun, ehrlich gesagt: Es ist Scham. Scham darüber, dass ich zwei Jahre lang geklagt habe über Unannehmlichkeiten und ein paar schlaflose Nächte, die ich hatte, um jetzt in einem Haus mit Garten und Super-Internetverbindung sitzen zu können, in dem meine drei Kinder und ich jede*r im eigenen Zimmer mit dem eigenen Laptop parallele Video-Konferenzen abhalten und auch sonst in aller Ruhe unsere Arbeit machen können, während andere … nun ja … Ich komme mir vor wie einer dieser Fußball- oder NBA-Stars, der auf irgendeinem debilen Privatsender eine Rundtour durch seine 2000-Quadratmeter-Villa macht und dann in völlig ernstem Ton zur Interviewerin sagt: „Naja, wissen Sie, manchmal ist es einfach ganz schön, wenn man mal ein bisschen Raum für sich selbst hat …“ Das totale Fremdschämen! Nur dieses Mal eben ohne „fremd“ …

/ 2024/5

​Ich sitze in einer Runde mit meiner Frau und vier sehr alten Freund*innen von mir, wir spielen „Hitster“. Das ist ein Spiel, bei dem irgendwelche Songs aus den letzten 70 Jahren oder so abgespielt werden – und man muss Künstler*in, Songtitel und vor allem Erscheinungsdatum erkennen. Oder eben raten … Egal, auf jeden Fall liebe ich dieses Spiel, denn ich bin ein Musik-Nerd, der manchmal nach zwei Takten sagt: „Das sind die Cranberries mit ‚Zombie‘, erschienen 1994“ – und dann gucken mich selbst diese Leute, die mich seit über 30 Jahren kennen, mit großen Augen an und denken offenkundig: „Mein Gott, was ist er für ein Nerd!“ Und auf eine merkwürdige Art und Weise mag ich das sehr.

Als ein neuer Song erklingt, merke ich ERST, dass mir die Tränen kommen, und dann wird mir klar, dass das „Auf uns“ von Andreas Bourani ist – jenes Lied, das ich mit der Heilung meines Sohnes von einer sehr schweren Kinderkrankheit verbinde (s. oben: 2014). Nun starren mich natürlich alle an, weil ich weine. Und weil das bei so einem Party-Abend irgendwie ungewöhnlich ist, werden aufmunternde Bemerkungen in die Runde geworfen – bis ein alter Freund von mir ruhig sagt: „Nun seid doch mal leise, damit ich kurz hören kann, was Björn an dem Song so berührt!“ Ich empfinde etwas, was schwer zu beschreiben ist … Gemeinsamkeit? Verbundenheit? Zärtlichkeit?

Wenige Monate später gebe ich eine zweitägige Fortbildung „Männerberatung“ für männliche Fachkräfte. Am ersten Tag wird mehrfach gefragt, wie das denn konkret aussieht, beraterisch von einer (zunächst noch recht oberflächlichen) Berührtheit des Klienten immer weiter in die Tiefe der Gefühle (und damit der Erkenntnis) zu gehen. Daher setze ich mich am Abend des ersten Tages hin und „psychoanalysiere“ mich selber, ausgehend von einer Szene aus dem Film „Breakfast Club“, bei der ich IMMER weinen muss. Es wird spät, denn ich bin selber überrascht, dass ich am Ende auf 10 oder 12 (!) immer tiefergehende Ebenen des Etwas-über-mich-Erfahrens komme.

Am nächsten Tag stelle ich mich vor der Mittagspause vor die Gruppe und präsentiere den Männern meine „Selbsterfahrungs-Arbeit“, zunächst ganz fachlich und Experten-mäßig, aber bei der drittletzten Ebene fange ich an zu weinen. Nicht so ein leichtes Zittern in der Stimme, sondern so richtig nass, und so, dass ich oft nicht weitersprechen kann. Ich weiß, dass ich jetzt unmöglich abbrechen und mich wieder hinsetzen kann, denn das stünde gegen ALLES, was ich seit 25 Jahre versuche, in die Welt zu tragen. Also gehe ich stotternd, weil ich den alten Schmerz wirklich spüre und ohne Pause weine, die letzten Ebenen durch. Als ich mich schließlich setze, klatschen die Männer … und nach der Mittagspause erzählen fast alle, wie sehr sie das gerade berührt hätte … und dass sie etwa beim Verdauungsspaziergang selber geweint hätten über einen alten Schmerz und so weiter. Ich empfinde, ja, ein Gefühl von Sinnhaftigkeit (s. oben: 1992). Und auch wieder diese Zärtlichkeit.

Und warum erzähle ich das hier so ausführlich? Weil wir in einer Zeit leben, in der toxische Männlichkeitsvorstellungen, Frauenhass, Homo- und Transphobie, ja im Prinzip Faschismus und Menschenfeindlichkeit wieder auf dem Vormarsch sind: Trump, Musk, Putin, Orban, Tate, Fuentes, Höcke … ich denke, ich muss sie nicht weiter ausführen, diese Liste furchtbarer, zerstörerischer Männer! Mein Gefühl dabei? Natürlich Ärger, klar, ein mir in dieser Form tatsächlich unbekannter Ärger, Verachtung sogar. Aber leider nicht nur das. Es macht mich buchstäblich fertig: Meine Stimmung ist grauenvoll seit Monaten, ich schlafe schlecht, mein Nachrichtenkonsumverhalten würde ich als „pathologisch“ diagnostizieren … Und das EINZIGE, was mich irgendwie am Laufen hält, was irgendwie meine Hoffnung aufrechterhält, sind Situationen, Beispiele, Manifestationen männlicher Zärtlichkeit: Die intellektuell-politische Zärtlichkeit von Bernie Sanders und Pete Buttigieg aus den USA. Das Video, wo der kleine Sohn des Snooker-Weltmeisters nach dem Finale den seinem Vater unterlegenen Spieler in den Arm nimmt und tröstet. Die Männer meiner Männerberatungs-Fortbildung. Mein alter Freund beim Hitster-Spielen.

Zärtlichkeit. Without it, we are doomed.